Der Kulturwissenschaftler und futurefoodstudio-Redakteur Wolfgang Reiter weiß zu genießen und das wissenschaftlich fundiert.

Sie waren einmal Theaterdirektor (Neumarkt, Zürich), Programmmacher (steirischer herbst) und Kulturjournalist (profil & Falter) – was ist Ihnen davon geblieben?
Viele schöne Erinnerungen. An die gemeinsame Arbeit im Team, mit tollen Künstlerinnen und Künstlern, an große Erfolge und – natürlich – auch an manches Scheitern; an durchgearbeitete Nächte und rauschende Premierenfeiern, an leidenschaftliches und kompromissloses Engagement, das gute Künstler auszeichnet. Und es sind nicht nur Erinnerungen. Christine Gaigg, mit der ich sowohl in Graz als auch in Zürich gearbeitet habe, begleite ich bis heute dramaturgisch bei ihren Inszenierungen und Performances.
Wie sind Sie zur Kulinarik gekommen?
Über die Praxis – regelmäßiges Kochen – und die Wissenschaft. Im gemeinsam mit Kollegen 1985 in Wien gegründeten Institut für Kulturstudien (IKUS) habe ich als Kulturwissenschafter die erste interdisziplinäre Studie über Esskultur initiiert. Ausgehend davon wurde die Kulinarik ein lebensbegleitendes Thema, das heute, gemeinsam mit meiner Frau Hanni Rützler, im futurefoodstudio wieder im Zentrum meiner Arbeit steht.
Lässt sich eine lebhafte Verbindung zwischen Kultur, Kunst und Kulinarik feststellen, oder ist das eher eine Event-Strategie?
Jedes Esserlebnis ist – wie jedes Theatererlebnis – ein flüchtiger Moment, einzigartig und unwiederholbar. Jedes Mal muss es neu erschaffen werden und dabei findet ein ständiger Dialog statt, zwischen Koch und Esser wie zwischen Schauspieler und Zuschauer. Für ein gutes Essen braucht es die gleichen Zutaten wie für gutes Theater: Leidenschaft und Können. Jedes Restaurant ist daher eine Bühne, auf der auch die Gäste ihre Rollen spielen. Dafür braucht es keine Event-Gastronomie.
Man sieht Sie auf Facebook immer wieder u.a. durch Wien (oder wo Sie gerade sind) schlendern – so finden Sie um 2 Euro einen perfekten Espresso in der Innenstadt (La Stella) – lohnt es sich noch zu suchen?
Ich bin kein Foodscout. Auf das La Stella bin ich nur durch Zufall gestoßen. Die Foodies und Gourmetkritiker in meinem Bekanntenkreis kannten das natürlich. Aber wenn ich den Kollegen Corti im Standard und Holzer im Falter oder Alexander Rabl auf Facebook folge, scheint sich die Suche doch immer wieder zu lohnen.
Für Einsteiger: Wie sind Sie zum Kochen gekommen?
Durch den Schweinebauch. In der Studenten-WG bekamen wir von der Mutter einer Mitbewohnerin, die in der Fleischabteilung bei Merkur gearbeitet hat, regelmäßig große Mengen an Bauchfleisch, die sie als Deputat bekommen hat. Aber drei Mal in der Woche Kümmelbraten, das schaffst du nicht. Also haben wir uns in chinesischen und französischen Kochbüchern schlau gemacht, was man aus Schweinebauch sonst noch machen kann. Und dabei sind wir auf neue Geschmäcker, Aromen und auch raffinierte Zubereitungsarten gestoßen. Und haben neue Skills gelernt.
Zum Erlebnis schmecken: Wo war Ihr Aha-Erlebnis?
Es gab mehrere. Als Kind an der nördlichen Adria, als mir ein italienischer Junge gezeigt hat, wie man nach Schwertmuscheln taucht und sie gleich roh genießen kann. Später als Jugendlicher – ebenfalls in Italien – der Käsewagen in den Hotel-Restaurants. Dass es Käse auch jenseits von Schmelzkäse-Ecken gibt, war tatsächlich ein Aha-Erlebnis. Und dann als junger Journalist bei einem Interview mit Eckart Witzigmann im Aubergine; zwar nicht meine erste Gourmet-Erfahrung, aber lange Zeit die eindrucksvollste. Rückblickend machen die drei genannten Erfahrungen auch wirklich Sinn: Frische Ausgangsprodukte, sorgfältig verarbeitete Lebensmittel und perfekt zubereitete Speisen, der Dreiklang, auf dem Kulinarik aufbaut.

Vegetarismus war für Sie nie ein Thema?
Als ethisches Konzept ist der Vegetarismus natürlich ein Thema für einen Kulturwissenschafter. Und es hat in den letzten Jahrzehnten auch meine Koch- und Esspraxis stark beeinflusst. Gemüse dominiert meinen Teller, auch wenn Fleisch und Fisch darauf zu finden sind. Weniger aus ethischen denn kulinarischen Gründen: Für mich als Zu-Hause-am-Herd-Koch sind überzeugende Gemüsegerichte herausfordernder, für mich als Esser meist sensorisch interessanter.
Biodynamische Nahrungsmittel schon ein Thema, oder?
Ja, wo immer es geht, greife ich auf Bio-Produkte zurück.
Sie berichten auch über den Think Tank Koch.Campus. Wie weit ist es sinnvoll, Essen und Kochen zu erforschen?
Ja, wenn ich meine Frau, die Mitglied des Koch.Campus ist, bei den Workshops dieses Think Tanks vertrete. Und ja, da kann man auch erfahren, dass es sinnvoll ist, Lebensmittel und Zubereitungsarten zu erforschen, neues oder längst vergessenes Know-how zu lernen und von den Erfahrungen aus anderen Kulturen zu lernen. Von den Japanern, zum Beispiel Ike-Jime, die Kunst Fische so zu töten, dass sie zum sofortigen Hirntod führt und dadurch die sensorische Qualität des Fleisches voll erhalten bleibt.
Wenden Sie das Erlernte auch zu Hause an?
Der Koch.Campus ist eine Vereinigung von österreichischen Spitzenköchen. Auf dem Niveau kann ich zu Hause natürlich nicht mitspielen. Aber die eine oder andere Inspiration nehme ich schon immer mit.
Sie arbeiten mit Ihrer Frau, der international bekannten Future-Food-Expertin Hanni Rützler, die sich mit dem Wandel der Esskultur auseinandersetzt. Kommt so auch (privat) etwas anderes auf den Teller?
Ja, zwangsläufig. Wir bekommen regelmäßig Prototypen neuer Produkte zur Verkostung zugeschickt – von fermentierten, nicht-alkoholischen Getränken, bis zu Produkten aus Insekten, Algen und Pilzmyzel. Oder vegane Fisch-Substitute aus dem 3D-Drucker. Und die müssen natürlich zubereitet und gegessen werden. Aber der Wandel drückt sich bei uns vor allem darin aus, dass Gemüse immer mehr ins Zentrum unserer Küche tritt, jenseits industrieller Plant-
Based-Produkte.
Werden wir in 5 Jahren noch das Gleiche essen wie heute?
Ja und nein. Unsere Esskultur ist in ständigem Wandel, sie unterliegt auch Moden und erfindet sich immer wieder neu. Es gibt klassische Gerichte, die uns seit langem begleiten und dies auch weiter tun werden. Und es wird neue Kreationen geben, auch neue Lebensmittel auf Basis der Präzisionsfermentation und anderen Technologien.
Ab wann sind Clean Meat und Algen Basis unsere Verköstigung?
Neuartige Lebensmittel werden unsere Nahrung in Zukunft ergänzen, aber nicht zwingend die Basis sein. Auch wenn bei uns viele Innovationen gebremst werden, wird sich kultiviertes Fleisch weltweit durchsetzen. In Asien sieht man diese Entwicklung viel entspannter und optimistischer. Es wird vielleicht so kommen wie bei E-Autos: Europa wird diese Lebensmittel dann aus dem fernen Osten importieren, statt sie selbst herzustellen, um von dieser Technologie zu profitieren. Bei der Ernährungs- und Landwirtschaftspolitik ist es wie in vielen anderen Bereichen: Alle schreien, dass sich was verändern müsse, aber wollen zugleich, dass es so bleibt wie es ist.
In meinem SF-Roman wäre Essen nicht mehr schmackhaft – kommt es soweit?
Nein. Weil Essen immer viel mehr ist als Ernährung, mehr als die Zuführung von Kalorien und Nährstoffen. Die kulinarische Dystopie, in der wir nur mehr Pillen schlucken und auf kulinarische Freuden verzichten, gehört nicht zu meinem Zukunftsbild. Da geht es viel mehr um Vielfalt.
Können Sie für sich Geschmack definieren?
Geschmack – so bringt es meine Frau in ihren Vorträgen immer gut auf den Punkt – ist immer beides: Ein Sinneseindruck und eine Bewertung. Um zu schmecken und auf den Geschmack von etwas zu kommen, braucht es fokussierte Aufmerksamkeit, um die Eindrücke zu beurteilen und sie einordnen zu können, Wissen und Erfahrung.
Herr Reiter, 40plus bedankt sich für das Gespräch.
Interview: Martin G. Wanko
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Wolfgang Reiter
Der Kulturwissenschaftler und bekennender Feinschmecker hat schon Mitte der 1990er Jahre gemeinsam mit Hanni Rützler am ersten multi-
disziplinären Forschungsprojekt zur „Ernährungskultur in Österreich“ mitgewirkt. Nach einer Karriere als Kulturjournalist (Neue Zürcher Zeitung, Profil) und Theaterleiter (Theater Neumarkt Zürich) gehört er seit 2008 zum Team des futurefoodstudio und unterstützt Hanni Rützler als Co-Autor und Redakteur.